Ein Teppich voller goldbraunen, gelbroten und dunkelgrünen Blättern. Der Weg des Gehens ist nun mit einem Meer an Blättern bedeckt. Steine und Wurzeln sind nur schwer zu erkennen. Versteckt unter diesem Blätterteppich. Und doch sind sie manchmal zu spüren. Mal mehr, mal weniger. Mal lassen sie uns nur stolpern. Ein andermal hinfallen. Bedeutend dabei ist es, wieder aufzustehen und den Weg weiter zu erkunden.
Bäume, manche im Herbstmantel, andere eher kahl oder von Moos bekleidet, ragen an den Seiten in Richtung Himmel empor. Jeder hat mit all seinen Jahren seine eigene Geschichte. Und doch haben sie alle mindestens etwas gemeinsam: Sie beeindrucken mit ihrer Widerstandsfähigkeit.
In Begleitung von unzähligen Gedanken gehe ich diesem Blätterteppich entlang. Die Sicht reicht nicht sehr weit. Der Nebel ist ebenfalls ein dichter Begleiter. Er sagt nichts und doch ist seine Anwesenheit deutlich zu hören. Manchmal scheint die Stille zu schreien. Und manchmal scheinen diese vielen lauten Gedanken nichts zu sagen.
Ich gehe den Weg weiter. Manchmal ist es holprig und rutschig. Für einen kurzen Moment überkommt mich dann ein Gefühl des Schreckens. Die Angst vor dem Hinfallen. Was passiert, wenn ich es tue und welchen Einfluss hat das auf meinen weiteren Weg? In welchem Zustand kann ich wieder aufstehen und welche Narben der Verletzungen werden mich auf diesem Weg weiter prägen?
Und doch sind in greifbarer Nähe Äste und Baumstümpfe, an denen ich mich halten kann. Aber für wie lange sind diese noch da? Den gesamten Weg oder nur einen Abschnitt bis zur nächsten Gabelung? Wie viel halten die aus, ohne selbst zu brechen?
Ich bleib stehen und starre in dieses weisse Nichts. Ich weiss nicht, wohin ich schaue. Es lässt keine Aussicht zu. Diese kreisenden Gedanken werden lauter und drehen schneller. Ehe ich einem nachgehen kann, drängt sich ein Neuer auf. Es erscheint unmöglich, eine konkrete Gedankenfährte aufzunehmen. Wie soll ich mich da entscheiden können, wohin ich weiter gehen soll? Also stehe ich da. Und doch erscheint es, als ob kein Boden unter meinen Füssen wäre. Meine Füsse sinken ein. Immer weiter. Sie sinken ein in das Bodenlose. Langsam und doch schnell genug, um die Angst zu haben, mich nicht rechtzeitig befreien zu können. Momente einer Gefühlsachterbahn. Angst, Verzweiflung, Wut, Hoffnung, Stärke. Sie kämpfen gegeneinander an, ohne dass ein Gewinner aus dem Ring steigt. Mit jedem Wechsel des Gefühls, erscheint das Bodenlose grösser zu werden. Es erscheint aussichtslos, weiter dagegen anzukämpfen.
Ich frage mich: Wo hört das Bodenlose auf? Was kommt danach? Was, wenn ich einfach loslasse?
Es gibt nicht immer gleich die passende Antwort auf die Frage, wie ich dem Bodenlosen entfliehen konnte. Es muss manchmal einfach getan werden. Erst nach einer Weile ist erkenntlich, wie etwas geschafft wurde und vor allem, weshalb es überhaupt zu bewältigen war. Aber auch solche Klarheiten sind erst nach dem Schwinden des Nebels sichtbar. Der Nebel ist ein Phänomen der Natur. Sie hat ihren ganz eigenen Rhythmus. Doch statt verkrampft den Text des Liedes auswendig zu kennen, erscheint es manchmal sinnvoll, das Augenmerk auf das Folgen des Rhythmus zu legen.
Mit dem Rhythmus der Natur gehe ich den Weg weiter. Noch immer in behutsamen Schritten, eingebettet auf einem Teppich unterschiedlichster Blätter. Darunter kleine und grosse Steine, Wurzeln und Unebenheiten verborgen. Jeder Schritt ist ein Tritt ins Ungewisse. Und doch scheinen sie meistens genug kräftig zu sein, mich durch dieses Ungewisse zu tragen.
Aus der Ferne ist ein gleichmässiges Rauschen zu hören. Auch wenn es einen beruhigenden Charakter hat, kann es Unbehagen auslösen.
Ich gehe weiter. Das Rauschen kommt mit jedem Schritt näher. Wir nähern uns gegenseitig an. So unterschiedlich die Absichten sein können, bleibt die Neugierde erhalten.
Das zuvor im Hintergrund erklingende Rauschen ist nun ganz nah. Vor mir. Ich stehe vor einem naturbelassenen kleinen Bach. Inmitten dieses Weges. Inmitten meines Weges.
Auch dieser Bach folgt seinem eigenen Rhythmus. In ihm tanzt die Natur. Die Blätter treiben, die Steine glitzern im Wasser und einzelne Äste schlingen zwischen den Steinen ihren Weg durchs fliessende Nass. Ich stehe da und beobachte. Irgendwie in Gedanken versunken. Was wäre, wenn diese treibenden Blätter Gedanken wären? Sie sind da und doch ziehen sie mit dem Fluss der Natur weiter. Freigelassen, um ihren Weg weiterzugehen.
Ich bleibe noch für einen Moment an diesem Bach stehen. Die Augen sind geschlossen. Jedes Ausatmen begleitet einen Gedanken in den Bach. So, als ob ein Blatt vom Baum abfallend seinen Weg ins Wasser findet und dort mit dem Rhythmus der Natur Eins wird. Der Gedanke zieht davon. Er verabschiedet sich. Abschiede sind schwer. Sehr schwer. Immer.
Wie stark die Natur doch sein muss. So viele Gedanken zu tragen ist nicht leicht. Sie machen schwer. Sie sind schwer. Und sie sind voller Macht. Oder sind es wir selbst, die ihnen diese Macht erteilen?
Der weitere Weg führt mich an eine Gabelung. Ich halte. Der Blick wandert von der einen zur anderen Seite. Noch immer erschwert der Nebel die Sicht. Selbst wenn ich es so sehr wollte, bleibt mir das Sichere verborgen. Wohin die Wege führen, bleibt nur zu erraten. Was verpasse ich, wenn ich nach rechts weitergehe und welche Herausforderungen begrüssen mich, wenn ich mich doch für links entscheide? Werden die Wege irgendwann wieder zusammenführen? Dichtet sich während einem dieser Wege der Nebel noch weiter?
Ich bin allein hier. Niemand, der mir die richtige Entscheidung zuflüstern könnte. Die Entscheidung eines anderen kann ein Verhängnis für mich sein. Richtig wäre dann also falsch.
Langsam hebe ich den Blick und betrachte die Bäume entlang der beiden Wege. Jeder scheint seine eigene Geschichte zu tragen, Narben und Risse von vergangenen Stürmen, und doch steht jeder fest, verwurzelt und gewachsen trotz allem. Diese Bäume, so still und doch voller Kraft.
Vielleicht gibt es keine richtige oder falsche Entscheidung. Vielleicht ist jeder Weg, auf dem wir uns gerade begeben, für den Moment derjenige, der es gerade sein soll.